Definition Fließprozesse
Fließprozesse sind hangabwärts gerichtete kontinuierliche Bewegungen von Lockermassen (Gerölle, Steine und Felsblöcke in einer schlammigen Matrix, vermengt mit Bäumen und Sträuchern) ohne definierte Gleitflächen. Nach entsprechender Wasseraufsättigung kommt es bei Fließprozessen zu einer vollständigen Liquefaktion der Rutschmassen, deren Bewegungsverhalten einer viskosen Masse gleicht.
Zu Fließprozessen zählen Erd-, Schutt- und Blockströme, Hangmuren, Muren sowie Kriechbewegungen, die nach ihren Bewegungsgeschwindigkeiten klassifiziert werden (AD-HOC-Arbeitsgruppe Geologie, 2016).
Kriechhänge und Talzuschübe werden den langsamen Fließprozessen mit Geschwindigkeiten von Zentimeter pro Jahr bis Meter pro Jahr zugeordnet. Sie können u. U. Vorläufer der schnelleren Fließbewegungen sein. Sofern die Bewegungsgeschwindigkeit bei Kriechbewegungen nur sehr gering bleibt (< 1 m pro Jahr), kann die aufwachsende Vegetationsdecke meist erhalten bleiben.
Als schnelle Fließprozesse gelten dagegen Erd-, Schutt- und Blockströme. Die Geschwindigkeiten liegen bei Meter pro Tag bis Meter pro Stunde.
Als Schutt- oder Blockstrom wird eine stromartige, hangabwärts gerichtete Bewegung von Lockermassen bezeichnet. Typisch ist eine sehr lang gestreckte, schmale Erscheinungsform. Beim Schutt- oder Blockstrommaterial überwiegen die Grobanteile (Steine, Blöcke) gegenüber einer feinkörnigen (tonigen/schluffreichen) Matrix. An einem Schutt-/Blockstrom treten alle möglichen morphologischen Bewegungsformen auf, insbesondere Stauchwülste, Risse, wassergefüllte Senken und markante seitliche Scherbahnen. Weitere Anzeichen sind schief stehende Bäume, schwimmende Rasenpolster und gespannte Wurzeln. Treten die Grobanteile in der bewegten Masse gegenüber den Feinanteilen in den Hintergrund, spricht man von einem Erdstrom.
In einem Murgang bewegen sich stark wasserdurchtränkte Lockermassen (ähnlich einer sehr groben Suspension) mit sehr hohen Geschwindigkeiten von Metern pro Sekunde hangabwärts. Murgänge folgen dem vorgegebenen Verlauf von Bachbetten und Erosionsrinnen. Im Gegensatz zum Schutt- oder Blockstrom ist der Murgang plötzlich auftretend, reicher an Wasser und zeichnet sich i. d. R. durch ein sehr großes Zerstörungspotenzial aus.
Hangmuren entstehen besonders häufig an steilen Hangabschnitten mit gering durchlässigen Lockergesteinsauflagen (z. B. Hanglehm). Nach entsprechender Wasseraufsättigung führt der hohe Wasseranteil im Versagensfall zu hohen Bewegungsgeschwindigkeiten von bis zu mehreren Zehner Stundenkilometer. Im Unterschied zu Murgängen sind Hangmuren nicht an einen Taleinschnitt oder eine Erosionsrinne gebunden und können somit größere Breiten aufweisen. Mündet eine Hangmure in eine wasserführende Erosionsrinne, kann sich daraus ein Murgang entwickeln.
In vielen Fällen lassen sich Massenbewegungen nicht eindeutig einem bestimmten Bewegungstyp zuordnen, da sie oft räumlich und zeitlich ineinander übergehen. So kann sich bei entsprechender Aufsättigung auch aus mehreren kleinen Rutschschollen oder einer Translationsrutschung beim Erreichen eines Taleinschnitts ebenfalls ein Murgang entwickeln (siehe dazu auch Hangrutschungen).
Auslöser von Fließprozessen
Der häufigste Auslöser eines Fließprozesses bzw. eines murgangähnlichen Ereignisses ist lang anhaltender bzw. sehr intensiver Regen, ggf. im Zusammenspiel mit der Schneeschmelze. Nach heftigen oder lang anhaltenden Niederschlägen kann sich der Wassergehalt der Lockergesteinsdecke so stark erhöhen, dass der Boden „verflüssigt“ wird (Aufhebung der Kohäsion, Strömungsdruck im Lockergestein) und als Suspension talwärts gleitet (Wagenplast, 2005).
Starkniederschläge können insbesondere in kleineren Einzugsgebieten sehr schnell zu extremen Abflüssen führen. In Kombination mit einem starken Gefälle (z. B. bei Wildbächen) sind diese hohen Abflüsse in der Lage, sehr große Mengen an Lockermaterial sehr schnell zu transportieren („Sturzflutereignis“). Neben starken Niederschlägen können ebenfalls spontane Ausbrüche aus aufgestauten Bereichen, wie z. B. durch Verklausungen an Brücken, Rutschmassen, Felssturzmassen o. ä. murgangähnliche Ereignisse auslösen, wenn schwallartig große Wassermengen in einen tieferen Gerinneabschnitt eindringen.
Fließereignisse in der Ingenieurgeologischen Gefahrenhinweiskarte von Baden-Württemberg
Fließereignisse bzw. murgangähnliche Ereignisse sind aufgrund ihrer Seltenheit in der Ingenieurgeologischen Gefahrenhinweiskarte (IGHK50) von Baden-Württemberg bislang nicht erfasst.
Aufgrund des „Sturzflutereignisses“ in Braunsbach im Jahr 2016 rückten die murgangähnlichen Ereignisse in Baden-Württemberg stärker in den Fokus. Zur Planung vorbeugender Sicherungsmaßnahmen (Murgang- bzw. Geröllgangsperren) in Braunsbach und den benachbarten Gemeinden wurde die mobilisierbare Geschiebemenge und die Transportkapazität sowie die Erosionsempfindlichkeit der in Bachrinnen auftretenden (Locker-) Gesteine beurteilt. Zurzeit ist die Beurteilung der Erosionsempfindlichkeit für die lithologischen Einheiten Baden-Württembergs in Arbeit. Die Bewertung der Erosionsempfindlichkeit wird anhand verschiedener Pilotgebiete validiert. In einer ersten Untersuchungsstufe sind Pilotgebiete bei Neckargerach (Gesteine des Buntsandsteins im Odenwald), bei Baienfurt (Gesteine der Oberen Süßwassermolasse im Alpenvorland), bei Schramberg (Gesteine der Rotliegend-Sedimente bis Unterer Buntsandstein im Schwarzwald) sowie im Suggental (Paragneise und Flasergneise des Gneis-Migmatit-Komplexes im Schwarzwald) vorgesehen. Ziel ist es, die Ingenieurgeologische Gefahrenhinweisekarte von Baden-Württemberg (IGHK50) um den Themenbereich erosionsempfindliche und veränderlich feste Gesteine zu erweitern.
Potenzielle Ausgangsgebiete und Fallbeispiele in Baden-Württemberg
In Baden-Württemberg bilden hauptsächlich Regionen mit steilen Hängen und schmalen Tälern potenzielle Ausgangsgebiete für murgangähnliche Ereignisse. Dies trifft somit insbesondere auf die Mittelgebirgsregion zu, in welcher Lockergesteine (Hang-/Verwitterungsschutt und Talsedimente) dem geringer durchlässigen Festgestein aufliegen.
Zusätzlich können als rutschempfindlich bekannte Formationen ebenfalls als anfällig für Fließprozesse angesehen werden, zumal Rutschungen auch in Fließprozesse übergehen können (s. o.).
Nachfolgend werden einige Fallbeispiele zu Fließereignissen/murgangähnlichen Ereignissen in Baden-Württemberg aufgeführt:
Literatur
- (2016). Gefahrenhinweiskarten geogener Naturgefahren in Deutschland – ein Leitfaden der Staatlichen Geologischen Dienste (SGD). 88 S., Stuttgart (Schweizerbart Science Publishers).
- (2005). Ingenieurgeologische Gefahren in Baden-Württemberg. – LGRB-Informationen, 16, S. 1–79.