Übersicht
Im Jahr 2002 wurden auf einem Grundstück in Wurmlingen (Landkreis Tübingen) drei Erdwärmesondenbohrungen niedergebracht. Bereits in den Jahren 2004 und 2005 kam es auf dem Grundstück neben dem dortigen Wohngebäude zur Erdfallbildung, die man zunächst als Folge einer natürlich stattfindenden Gipsauslaugung in den oberflächennah anstehenden Schichten der Grabfeld-Formation (frühere Bezeichnung Gipskeuper) vermutete und zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit den auf dem Grundstück niedergebrachten Erdwärmesondenbohrungen in Verbindung brachte. Daraufhin wurde das auf dem Grundstück stehende Wohngebäude im Jahr 2006 mit Injektionen unterfangen.
Ab dem Jahr 2011 sind gehäuft weitere Erdfälle aufgetreten und haben sich fortlaufend vergrößert. Sie erstreckten sich rund um das Wohngebäude bis hin zum Nachbargrundstück und zur angrenzenden Straße. Als Ursache für die Erdfälle wurden zunächst weiterhin natürliche Auslaugungsprozesse im Untergrund angenommen. Insbesondere das nahe unter der Oberfläche anstehende Sulfatgestein der Grabfeld-Formation ist als anfällig für derartige Prozesse bekannt, sobald darin eine Grundwasserzirkulation stattfindet. Die Hohlraumbildungen waren jedoch bald so massiv, dass neben den natürlichen Auslaugungsvorgängen auch weitere Prozesse in Betracht gezogen werden mussten.
Zur Beobachtung der Geländeverformungen hat die Stadt Rottenburg ab März 2007 bis Juli 2012 im Bereich einer entlang des betroffenen Grundstücks befindlichen Stützmauer an insgesamt sieben Messpunkten mit einer Nullmessung und zehn Folgemessungen Senkungsbeträge und Senkungsraten gemessen. Die in diesem Zeitraum gemessenen Gesamtsenkungen beliefen sich zwischen 3–11 cm, an einem Messpunkt bis zu 65 cm. An dem Messpunkt mit der höchsten gemessenen Gesamtsenkung entwickelte sich die Senkungsrate von anfänglich 0,4 cm/Monat auf zuletzt 2,3 cm/Monat, bei den übrigen Messpunkten konnten in diesem Zeitraum Senkungsraten zwischen 0–0,8 cm/Monat ermittelt werden.
Darüber hinaus führte die Stadt Rottenburg ab Mai 2012 an 42 Messpunkten regelmäßige Senkungsbeobachtungen durch. Bis Juli 2012 liefen an diesen Messpunkten Senkungsbeträge zwischen 1-2 cm auf, was einer Senkungsrate von 0,4–0,7 cm/Monat entsprach. Bei vier Messpunkten ergab sich in diesem Zeitraum eine Senkung von 3 cm (Senkungsrate 1,1 cm/Monat) und in einem Falle eine Senkung von 4 cm (Senkungsrate 1,5 cm/Monat).
Aufgrund der beobachteten Beschleunigung der Senkungsrate musste man somit von einer zunehmenden Erdfallgefährdung im Untersuchungsbereich ausgehen.
Im Juli 2012 erfolgte schließlich eine eingehende Untersuchung der jeweils etwa 100 m tiefen Erdwärmesonden. Diese Untersuchungen belegten eine nach oben gerichtete Wasserwegsamkeit vom Oberen Muschelkalk in die überlagernden Grundgipsschichten der Grabfeld-Formation. Wie geophysikalische Messungen zeigten, stieg über die undichten Ringraumhinterfüllungen der EWS-Bohrungen gespanntes Grundwasser im Muschelkalk in die Grundgipsschichten der Grabfeld-Formation auf und verstärkte dort den natürlichen Auslaugungsprozess massiv.
Geologische und hydrogeologische Verhältnisse
Der tiefere Untergrund im Bereich des Grundstücks mit den Erdwärmesonden besteht aus den Schichten des Oberen Muschelkalks. Darüber folgen die knapp 20 m mächtige Erfurt-Formation des Unterkeupers und die noch rund 15 m mächtigen Grundgipsschichten der Grabfeld-Formation des unteren Mittelkeupers. In allen Bohrungen wurde Gips angetroffen, der durch fließendes Grundwasser gelöst werden kann. In der Region sind natürliche Auslaugungsprozesse und Hohlraumbildungen bekannt, lösungsbedingte Erdfälle treten in vergleichbaren geologischen Situationen immer wieder auf.
In den Grundgipsschichten der Grabfeld-Formation ist ein oberes Grundwasserstockwerk ausgebildet. Es ist vom darunter folgenden Grundwasserstockwerk des Oberen Muschelkalks durch die Schichten der Erfurt-Formation hydraulisch getrennt. Der Obere Muschelkalk ist ein regional bedeutender Kluft- und Karstgrundwasserleiter. Das Grundwasser im Oberen Muschelkalk ist gespannt, seine Druckhöhe reicht bis in den Bereich der sulfatführenden Grundgipsschichten.
Erkundungsmaßnahmen
Bereits im Jahr 2004 wurden zur Erkundung der Untergrundverhältnisse drei Bohrungen abgeteuft, wovon eine (GWM 2/04) zur Grundwassermessstelle in den Grundgipsschichten ausgebaut wurde. Dies ermöglichte die Messung des Grundwasserstands und die Probenahme für hydrochemische Analysen.
Zur weiteren Erkundung der lokalen Untergrundverhältnisse sowie zur Beurteilung, in wieweit die Erdwärmesondenbohrungen ursächlich für die beobachteten Senkungen bzw. für die Erdfälle sind, wurden im Jahr 2011 zwei Erkundungsbohrungen (B 1/11 und B 2/11) abgeteuft. Eine wurde als Grundwassermessstelle im Oberen Muschelkalk ausgebaut. Darüber hinaus wurden in einer EWS das vertikale Temperaturprofil sowie das Aufheiz- und Abkühlverhalten des Untergrunds mit einem Kurz-Thermal-Response Test ermittelt.
Die Erkundungsmaßnahmen lieferten folgende Ergebnisse:
- Die beiden Erkundungsbohrungen haben bis 6,75 m hohe Hohlräume im Sulfatgestein der Grabfeld-Formation angefahren.
- Am Sondenkopf der EWS 1 hatte die Hinterfüllung eine weichpastöse Konsistenz mit einem hohen Wassergehalt. Am Sondenkopf der EWS 3 war keine Hinterfüllung vorhanden.
- Die Erdwärmesondenschläuche sind im Bereich der Grundgipsschichten deformiert bzw. verengt.
- Im Ringraum der EWS-Bohrungen bestanden Wasserwegsamkeiten. Abschnittsweise waren die EWS ohne Hinterfüllung. Dort wurde eine signifikante Grundwasserströmung von der Bohrlochsohle nach oben beobachtet.
- Am Standort gibt es zwei Grundwasserstockwerke, eines in der Grabfeld-Formation und eines im Oberen Muschelkalk. Sie sind durch die Erfurt-Formation hydraulisch getrennt.
- Das Grundwasser in der Grabfeld-Formation (Grundgipsschichten) ist nicht gespannt, hat einen Sulfatgehalt von etwa 1300 mg/l und ist stark betonangreifend.
- Das Grundwasser im Oberen Muschelkalk ist gespannt. Das Druckpotenzial liegt in der Sulfatgestein führenden Grabfeld-Formation, etwa 27 m oberhalb der Schichtgrenze Muschelkalk/Unterkeuper und rund 1 m über dem Grundwasserpotenzial der Grundgipsschichten. Es ist geringer mineralisiert (Sulfat-untersättigt) und kann daher die Sulfatgesteine der Grabfeld-Formation gut lösen.
- In der EWS 1 stehen die beiden Grundwasserstockwerke aufgrund der missglückten Hinterfüllung des Ringraumes hydraulisch in Kontakt. Dadurch steigt Grundwasser aus dem Muschelkalk in die Grabfeld-Formation auf.
Maßnahmen zum Stoppen der Setzungsvorgänge
Bis November 2013 wurden alle drei Erdwärmesondenbohrungen mit einem größeren Bohrdurchmesser überbohrt. Zur Überprüfung der durchgeführten Bohrarbeiten und Planung der anschließenden Abdichtungsmaßnahmen wurden geophysikalische Bohrlochuntersuchungen (Kaliberlog, Gammalog) und eine Kamerabefahrung durchgeführt. Die Kamerabefahrung zeigte, wo beim Überbohren der EWS von deren Bohrspur abgewichen wurde, wo in den EWS-Bohrungen Hinterfüllmaterial fehlte und dass Grundwasser durch das Bohrloch nach oben strömte.
Nach Abschluss der Bohrarbeiten wurden in den aufgewältigten Erdwärmesondenbohrungen an der Grenze Oberer Muschelkalk/Erfurt-Formation Packer gesetzt. Mit dem Setzen der Packer wurden die Bohrlöcher zur überlagernden Erfurt-Formation hydraulisch abgedichtet, ohne die natürliche Wasserwegsamkeit innerhalb des Oberen Muschelkalks zu beeinträchtigen. Oberhalb des Packers wurden die Bohrungen mit Zement abgedichtet und die im Abschnitt der Grabfeld-Formation vorhandenen Fehlstellen kraftschlüssig mit Kies verfüllt. Mit dieser Maßnahme konnte der ehemals künstlich über die EWS-Bohrungen hergestellte hydraulische Kurzschluss zwischen dem Oberen Muschelkalk und der Grabfeld-Formation behoben werden. Der eingetretene Sanierungserfolg zeigt sich in dem sinkenden Grundwasserspiegel in den Grundgipsschichten.