Der Kenntnisstand zum Schadensfall Böblingen Hebungsgebiet Nord ist in einem LGRB-Sachstandsbericht zusammengefasst (LGRB, 2015).
Übersicht
In den Jahren 2006 bis 2008 wurden im nordöstlichen Stadtgebiet von Böblingen mehrere Bohrungen für private Erdwärmesonden-Anlagen niedergebracht.
Zwischen Oktober 2006 und November 2008 wurden im südlichen Teilgebiet (im folgenden Hebungsgebiet „Süd“) insgesamt 18 Bohrungen für acht Erdwärmesonden-Anlagen abgeteuft. Ab dem Jahr 2011 und vermehrt im Jahr 2012 wurden aus dem Umfeld der Bohrungen Bauwerksschäden in Form von Rissen an Haupt- und Nebengebäuden gemeldet.
Im September/Oktober 2008 wurden im nördlichen Teilgebiet (im folgenden Hebungsgebiet „Nord“) zwei jeweils 130 m tiefe Bohrungen abgeteuft und zu Erdwärmesonden ausgebaut. In diesem Gebiet wurden erstmals im Jahr 2011 und vermehrt im Jahr 2012 Risse an Haupt- und Nebengebäuden gemeldet.
Durch geodätische Messungen im Jahr 2013, die vom Landratsamt Böblingen beauftragt worden waren, wurden zwei Hebungsgebiete identifiziert. Im Januar 2014 wurde vom LGRB im Zuge der ingenieurgeologischen Landesaufnahme eine Laserscan-Befliegung beauftragt. Durch den Vergleich der Ergebnisse dieser Befliegung mit Ergebnissen der landesweit vorhandenen Airborne-Laserscanmessungen vom 05.02.2002 (LVA Baden-Württemberg) konnten in einer flächenhaften Auswertung des LGRB Ausdehnung und Hebungsbeträge dargestellt werden.
Dabei wurden die zwei Haupthebungsgebiete bestätigt:
- Ein nördliches, annähernd elliptisches Hebungsgebiet (bezogen auf einen Hebungsbetrag ab 10 cm: West–Ost-Erstreckung ca. 600 m, Nord–Süd-Erstreckung ca. 200 m, Hebungsgebiet „Nord“)
- Ein südliches, sichelförmiges Hebungsgebiet (bezogen auf einen Hebungsbetrag ab 10 cm: West–Ost-Erstreckung ca. 950 m, Nord–Süd-Erstreckung bis ca. 375 m, Hebungsgebiet „Süd“). In diesem Gebiet lassen sich anhand der Radarinterferometrie-Auswertung (InSAR, interferometrische Zeitserienanalyse) wiederum zwei Hebungszentren identifizieren. Ein Hebungszentrum liegt im zentralen Bereich sowie ein weiteres im Westen der Hebungsfigur.
Geologische und hydrogeologische Verhältnisse
Der Untergrund von Böblingen besteht im Wesentlichen aus Schichten des Keupers, die von unterschiedlich mächtigen quartären Deckschichten überlagert werden. In den tiefsten Lagen von Böblingen wie z. B. in den Talauen von Murkenbach, Goldbach oder Schwippe, besteht der Untergrund aus Talablagerungen unterschiedlicher Beschaffenheit. Lehmige Kiese und Sande werden von Auenlehm überlagert. Zwischengeschaltet sind auch organische Ablagerungen (Torf, Sumpfton). Weitflächig stehen die Schichten der Grabfeld-Formation (Gipskeuper) an. Die unter der Grabfeld-Formation folgenden Schichten stehen in Böblingen nicht über Tage an. Unterjura ist in der Umgebung von Böblingen nur noch in tektonischer Tieflage sowie im Süden bis Südosten in den höchsten Hangabschnitten und den stark zergliederten Hochflächen vorhanden.
Die Erkundung der geologischen und hydrogeologischen Untergrundverhältnisse in beiden Hebungsgebieten begann im Oktober 2014. Hierzu wurden aufwändige Untersuchungen durchgeführt. Im Hebungsgebiet „Nord“ wurden eine Kernbohrung und zwei flachere Grundwassermessstellen, im Hebungsgebiet „Süd“ eine Kernbohrung sowie vier weitere Bohrungen abgeteuft.
Die Ergebnisse dienten als unverzichtbare, belastbare Daten- und Bewertungsgrundlage sowohl für die Beweissicherung als auch für schadensbegrenzende Maßnahmen. Sie lieferten folgende Erkenntnisse:
- Die Erkundungsbohrung im Hebungsgebiet „Nord“ durchteufte unter geringmächtiger Auffüllung und geringmächtigen quartären Deckschichten die Gesteinsabfolge des Mittelkeupers (bis 115,04 m unter Bohransatz), der Erfurt-Formation des Unterkeupers (bis 133,89 m unter Bohransatz) und des Oberen Muschelkalks (bis 144,8 m unter Bohransatz). Sulfat-führendes Gebirge wurde in der Grabfeld-Formation zwischen 49,35 m u. GOK und 115,15 m u. GOK angetroffen.
- Oberer Gipsspiegel bei 49,35 m u. GOK
- Oberer Anhydritspiegel bei 56 m u. GOK
- Unterer Anhydritspiegel bei 114,4 m u. GOK
- Unterer Gipsspiegel bei 115,15 m u. GOK
- In der Erkundungsbohrung B 2a im Hebungsgebiet „Süd“ wurde Sulfat-führendes Gebirge zwischen 17,5 m u. GOK und 130,5 m u. GOK angetroffen. Oberer Gipsspiegel bei 17,5 m u. GOK.
- Oberer Gipsspiegel bei 17,5 m u. GOK
- Oberer Anhydritspiegel bei 58,5 m u. GOK
- Unterer Anhydritspiegel bei 121,7 m u. GOK
- Unterer Gipsspiegel bei 130,5 m u. GOK
- In beiden Hebungsgebieten sind drei hydraulisch und hydrochemisch voneinander getrennte Grundwasserstockwerke ausgebildet
- der Kluftgrundwasserleiter der Stuttgart-Formation (früher: Schilfsandstein-Formation)
- der Kluft- und Karstgrundwasserleiter der Grabfeld-Formation(Gipskeuper)
- der Kluft- und Karstgrundwasserleiter des Oberen Muschelkalks.
- Zieht man die Ergebnisse aus der Erkundungsbohrung B 1a im Hebungsgebiet „Nord“ als Referenzprofil heran, dann haben dort die Erdwärmesondenbohrungen EWS 1 und EWS 2 die Schichtgrenze Grabfeld-/Erfurt-Formation durchteuft.
- Im Hebungsgebiet „Nord“ war die EWS 1 mit der Messsonde in allen vier Sondenschläuchen nur bis ca. 33,5 m unter Bohransatz und die EWS 2 in allen vier Sondenschläuchen nur bis ca. 34,0 m unter Bohransatz befahrbar. Dabei wich die EWS 1 bis zu 1,4 m westlich aus der Vertikalen und die EWS 2 bis zu 1,2 m südwestlich aus der Vertikalen ab. Somit ist davon auszugehen, dass die EWS-Bohrungen bis zur Endteufe von 130 m noch deutlich stärker aus der Vertikalen abweichen.
- Im Hebungsgebiet „Süd“ weichen die Erdwärmesonden um maximal 3,4 Meter aus der Vertikalen ab.
- In den Ruhetemperaturprofilmessungen der EWS beider Hebungsgebiete ist ein deutlicher vertikaler, nach unten gerichteter Grundwasserfluss festzustellen. Er führt zu einem negativen Temperaturgradienten durch den Wärmeverlust des absteigenden Grundwassers in Folge des Kontakts mit dem ausgekühlten Gebirge.
- Es gibt einen unmittelbaren raumzeitlichen Zusammenhang zwischen der Ausführung der Bohrungen und dem Beginn der ersten Hebungen.
Die umfangreichen Untersuchungen ergaben somit, dass missglückte Ringraumabdichtungen der Erdwärmesonden zu den eingetretenen Schäden führten. Hierdurch gelangte über den Ringraum der EWS absteigendes Grundwasser aus dem Kluftgrundwasserleiter der Stuttgart-Formation in das unterlagernde Sulfatgebirge. Dort löste es in der Grabfeld-Formation den Prozess des so genannten „Gipskeuperquellens“ aus.
Maßnahmen zum Stoppen des Hebungsprozesses
Aufgrund der starken Abweichungen der EWS-Bohrungen aus der Vertikalität kam ein Überbohren der Sonden nicht in Frage. Als Maßnahme zum Stoppen des Hebungsprozesses wurden deshalb die undichten Ringräume der Erdwärmesonden nachträglich abgedichtet. Die Arbeiten wurden im Hebungsgebiet „Nord“ zwischen November 2014 und Januar 2015 ausgeführt. Im Hebungsgebiet „Süd“ erfolgte die nachträgliche Abdichtung der Sonden in den verschiedenen Gebieten zwischen dem 11.02.2015 und 27.07.2015, dem 03.08.2015 und 07.12.2015 bzw. dem 14.08.2017 und 27.07.2018.
Zeitliche Entwicklung der Geländedeformation
Aufgrund der großen räumlichen Ausdehnung und der erheblichen natürlichen Höhenunterschiede erwies sich die regelmäßige Erfassung der Geländeveränderungen in den Hebungsgebieten durch geodätische Feinnivellements als extrem aufwändig. Deshalb wurde die Methode der Radarinterferometrie eingesetzt. Die Fa. Airbus Defence and Space, Potsdam wurde hierzu vom LRA Böblingen mit der Auswertung der Geländeveränderungen im halbjährigen Abstand beauftragt.
Die Messungen der räumlichen und zeitlichen Entwicklung des Hebungsverlaufs stellen die wesentliche Grundlage zum Nachweis der Wirksamkeit eingeleiteter schadensbegrenzender Maßnahmen dar und werden fortgesetzt. Nach der interferometrischen Zeitserienanalyse begannen die Hebungen in beiden Hebungsgebieten im Nahbereich um die Bohrungen unmittelbar – d. h. wenige Tage bis Wochen – nach deren Erstellung.
Im Hebungsgebiet „Nord“ dokumentieren die Messungen der Fa. Airbus Defense and Space ab dem 21.01.2015 eine signifikante Abnahme der Hebungsgeschwindigkeiten. Die maximale Hebungsgeschwindigkeit wird dort von der Fa. Airbus Defence and Space mit 5,7 mm/Monat angegeben (Bericht vom 22.10.2014).
Im September 2015 lag die maximale Hebungsgeschwindigkeit im deutlich verkleinerten Hebungsgebiet nahezu überall unter 2 mm/Monat. Es zeigt sich ein signifikanter zeitlicher Zusammenhang zwischen der nachträglichen Abdichtung der Erdwärmesonden (November 2014 bis Januar 2015) und dem Rückgang der Hebungsgeschwindigkeit. Derzeit betragen die maximalen Hebungsgeschwindigkeiten noch ca. 0,55 mm/Monat (gemittelt über den Zeitraum August 2018 bis Februar 2019).
Im Hebungsgebiet „Süd“ haben sich zwei Hebungszentren entwickelt, die sich zeitlich und räumlich überlagern. Die maximalen Hebungsgeschwindigkeiten im „südwestlichen Zentrum“ betrugen 1,8 mm/Monat (maximale Geländehebung von 24 bis 25 cm), die im „zentralen Zentrum“ betrugen 3,1 bis 4,8 mm/Monat (maximale Geländehebung von 25 bis 35 cm).
Mit dem Beginn der nachträglichen Abdichtung der EWS haben sich die Hebungen im Hebungsgebiet „Süd“ deutlich verlangsamt („südwestliches Zentrum“, „zentrales Zentrum“).
Mit der Verlangsamung der Hebungsgeschwindigkeiten ging eine signifikante Verkleinerung der Bereiche einher, die sich noch in Hebung befinden. Das Zentrum der Hebungen liegt weiterhin ortsfest. Die Verringerung der Hebungsgeschwindigkeiten und die zeitliche Übereinstimmung mit den Sanierungsarbeiten bestätigen, dass die durchgeführten Maßnahmen erfolgreich sind.
Literatur
- (2018a). Geologische Untersuchungen von Baugrundhebungen im nordöstlichen Stadtgebiet von Böblingen (Hebungsgebiet „Süd“). – Sachstandsbericht, Az.: 95-4764//18-6346, S. 1–194, 04.12.2018, Freiburg i. Br. (Landesamt für Geologie, Rohstoffe und Bergbau).