Ereignisse
Erdfall 2000
In der Nacht vom 12. auf den 13. Mai 2000 ereignete sich auf dem Spielplatz eines Kindergartens in der Ihmlingstraße in einem dicht besiedelten Wohngebiet in Stuttgart-Bad Cannstatt ein Erdfall. Personen kamen glücklicherweise nicht zu Schaden. Der Erdfall hatte einen Anfangsdurchmesser von 6 m und eine Tiefe von ca. 15 m. Durch Nachbrechen der Böschung des Erdfallschachts verbreiterte sich dieser auf rund 8 m (Rogowski, 2002; Schweikardt, 2008; Rogowski et al., 2017). Die weitere Umgebung des Erdfalls ist bereits seit Jahrzehnten als Erdfall- und Senkungsgebiet bekannt.
Frühere Ereignisse
Am Vormittag des 18. März 1957 entstand in einem damaligen Schrebergartengelände in der Winterhalde ein zunächst ca. 12 m im Durchmesser großer und mit Grundwasser gefüllter Erdfallschacht. Messungen ergaben bis zur Grundwasseroberfläche eine Tiefe von 20 m, bis zur Sohle des Erdfallschachts 26 m. Durch Nachbrüche verbreiterte sich der Durchmesser des Erdfalls auf bis zu 15 m. Zwei Gartenhäuschen wurden durch den Erdfall mit in die Tiefe gerissen.
Im Sommer 1941 brach in der Tarnowitzer Straße in einem Wohngebäude der Keller ein, sodass die dort eingelagerten Mostfässer und Kartoffeln drei Meter in die Tiefe stürzten. Bereits vor diesem Ereignis war das Wohngebäude wie auch die umgebende Bebauung von Rissen durchzogen, die Erdsenkungen infolge der Gipsauslaugung anzeigten. An Rissen angebrachte Gipsmarken belegten anhaltende Senkungsbewegungen. Bis heute mussten aufgrund massiver Bauschäden mehrere Häuser abgerissen werden.
Neben diesen größeren Erdfällen traten auch im öffentlichen Raum (Straßen, Gehwege) wiederholt kleinere Erdfälle auf, die verfüllt werden mussten. So ereignete sich beispielsweise in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1975 ein Erdfall in der Tarnowitzer Straße, bei dem ein abgestellter LKW-Anhänger mit dem Rad einbrach.
Geologie und Morphologie
Das Gefährdungsgebiet in Stuttgart-Bad Cannstatt befindet sich oberhalb der heutigen Neckarauen, wo unter mächtigen jungen quartärzeitlichen Lockergesteinsablagerungen (Lösslehm, lössführende Fließerde, Hochterrassenschotter) Festgesteine der Grabfeld-Formation (ehemalige Bezeichnung Gipskeuper; Mittelkeuper) anstehen. Die Festgesteine der Grabfeld-Formation bestehen in erster Linie aus Tonsteinen, wobei deren unterster Abschnitt, die Grundgipsschichten, von mächtigen Gipsbänken durchzogen werden. Der Sulfatanteil beträgt in den Grundgipsschichten im Gefährdungsgebiet ca. 60 %. Die Grundgipsschichten setzen im Erdfallgebiet ab einer Tiefe von ca. 28–35 m u. GOK ein. In dieser Tiefe findet auch vermutlich in Stuttgart-Bad Cannstatt die aktive Gipsauslaugung statt, die in der Vergangenheit zu den bekannten Begleiterscheinungen (Erdfälle, flächenhafte Geländeabsenkungen) geführt hat. Unterhalb der Grundgipsschichten folgen die gipsfreien Festgesteine der Erfurt-Formation (ehemalige Bezeichnung Lettenkeuper; Unterkeuper).
Im Gefährdungsgebiet wird der ausgeprägte Auslaugungsvorgang zudem durch die spezielle strukturgeologische Situation entlang der Filderrandverwerfung sowie den besonderen hydrogeologischen Verhältnissen eines heute nicht mehr sichtbaren Taleinschnitts begünstigt, der Kienbachtal-Mulde (Kienbachtälchen). Der Kienbachtal-Mulde kommt für den Grundwasserabfluss eine wichtige Rolle zu (Rogowski, 2002; 2006). Das in den Lockergesteinsschichten des Kienbachtälchens gesammelte Grundwasser laugt die flächig in geringer Tiefe im Untergrund ausstreichenden Sulfatgesteine der Grundgipsschichten aus.
Durchgeführte Erkundungen
Infolge des Erdfalls 1957 wurde im Frühjahr und Frühsommer desselben Jahres der Bereich des Ereignisses geophysikalisch mittels Geoelektrik untersucht. Dabei wurde ein größerer Hohlraum im Nahbereich der Remstalbahnstrecke detektiert und durch eine weitere Erkundungsbohrung verifiziert. Die anlässlich des Erdfalls 1957 bis in den Grenzdolomit der Erfurt-Formation abgeteuften Bohrungen schlossen die Sulfatlagen im Bereich des Bochingen-Horizontes bis zu den Grundgipsschichten auf. Auslaugungsstadien von nahezu unausgelaugten und nur stark zerklüfteten Gipsen, über Bereiche mit Hohlraumbildungen bis hin zur fast vollständigen Auflösung des Gipses und Ausbildung von weichen lehmigen Gipsauslaugungsrückständen (GAR) wurden angetroffen. Auch wurden im Sommer 1957 Färbeversuche mittels Uranin durchgeführt, um mögliche Verbindungen und Fließpfade zwischen den Bohrlöchern nachzuweisen und Anhaltspunkte über die räumliche Lage weiterer potenzieller Hohlräume zu erlangen.
Über einen Zeitraum von gut 10 Jahren wurden bis 1980 im Senkungsgebiet mit den ausgeprägtesten Gebäudeschäden am Ostrand der Kienbachtal-Mulde Senkungsmessungen durchgeführt. Bis zu 32 mm Setzungsbewegungen wurden dabei erfasst.
Anlässlich weiterer Erdfälle und Senkungsschäden wurden 1992 im Umfeld der Tarnowitzer Straße bei einer weiteren Erkundungskampagne vier Bohrungen abgeteuft und deren nächste Umgebung durch Bohrlochseismik erkundet. Hierbei konnten Hinweise zu Auflockerungen und potenziellen Hohlräumen erhalten werden. Für eine genauere Beurteilung der Untergrundsituation wären aber ergänzende direkte Baugrundaufschlüsse (Bohrungen) benötigt worden.
Der Erdfall vom Frühjahr 2000 im Kindergartengelände befindet sich nicht in unmittelbarer Nähe des bisher bekannten Senkungsgebiets, weshalb die räumliche Ausdehnung des Gefährdungsgebiets sowie des akuten Gefährdungspotenzials neu geklärt werden mussten. Hierfür wurden zur Erkundung der Untergrundsituation und subrosionsbedingter Phänomene Bohrungen im unmittelbaren und weiteren Umfeld des Ereignisses niedergebracht sowie geoelektrische, reflexions-/refraktionsseismische Untersuchungen und mikrogravimetrische Untersuchungen durchgeführt. Die geophysikalischen Untersuchungen erbrachten Hinweise auf Inhomogenitäten (Auflockerungsbereiche, Hohlräume) im Untergrund, die gezielt mithilfe ergänzender Bohrungen verifiziert werden konnten (Rogowski, 2002; 2006). Bei einer Kernbohrung (B4) im Nahbereich des Erdfalls wurde in den Grundgipsschichten in einer Tiefe zwischen 35 m und 40 m u. GOK ein größerer Hohlraum erbohrt. Dessen Volumen und die Hohlraumform konnte mittels Sonarvermessung (Echo-Log) bestimmt werden. Bei einem Radius von minimal 5 m und maximal 14 m sowie einer Höhe von 5 m im Bereich der Bohrung wurde ein Hohlraumvolumen von ca. 600 m3 ermittelt (Rogowski & Schweikardt, 2006).
Generelle Anmerkungen
Indirekte geophysikalische Erkundungsverfahren können angewandt werden, um flächendeckende Informationen über die Untergrundsituation zu gewinnen, z. B. zur Lokalisierung von Lösungshohlräumen. Wie auch im vorliegenden Fall ist dieses Erkundungsverfahren häufig mit großen Unsicherheiten behaftet. Verantwortlich hierfür sind Rahmenbedingungen, wie z. B. oberflächennahe Störeinflüsse (Ver-, Entsorgungsleitungen, Kanäle, Auffüllungen), wechselnde Mächtigkeit und Zusammensetzung der Lockergesteinsüberdeckung oder unterschiedliche Beschaffenheit und wechselnder Verwitterungszustand des Festgesteinsuntergrunds (Rogowski, 2006). Die gewonnenen Erkenntnisse sind daher durch gezielte Erkundungsbohrungen zu überprüfen.
Sicherungsmaßnahmen
Das Gefährdungsgebiet in der Winterhalde in Stuttgart-Bad Cannstatt ist durch eine vorwiegend aus den 1930er Jahren stammende mehrgeschossige Wohnbebauung dicht bebaut. Konstruktive Vorkehrungen im Hinblick auf die bestehende Gefährdungssituation wurden während der Bauphase nicht verwirklicht. Nachträgliche Sicherungsmaßnahmen sind ohne sich konkret ankündigende Schäden weder durchführbar noch zweckmäßig. Längerfristig sind Maßnahmen zur sicheren Verlegung von Leitungstrassen (z. B. flexible Anschlüsse im Übergang zu den Gebäuden) im öffentlichen Raum sinnvoll (Rogowski, 2002; 2006). Anlassbezogen werden Bodensenkungen und Hohlräume nach örtlicher Situation verfüllt, Leitungen überprüft und ggf. ein weiterführendes Erkundungsprogramm zur Untergrundverfüllung von möglicherweise detektierten Hohlräumen umgesetzt.
Die 1957 abgeteuften Bohrungen und dabei angetroffene Hohlräume wurden im Anschluss mit einer leicht laufenden, langsam abbindenden Mörtelmischung verpresst. In Klüfte oft unkontrolliert abfließende Verpresssuspensionen können dabei häufig zu hohen Verpressmengen führen. In einem Bohrloch wurden dabei fast 84 000 l Mörtelmischung verbraucht, bis alle Hohlräume verfüllt waren.
Der Erdfall 2000 wurde mit Erd- bzw. Recyclingmaterial verfüllt und mit einem Geogitter überspannt (Rogowski 2002).
Der bei der Erkundung im Jahr 2000 detektierte ca. 600 m3 große Hohlraum wurde mit rolligen Lockergesteinen soweit verfüllt, dass für einen möglichen Verbruch nur ein unkritischer Resthohlraum verblieb (Rogowski, 2002).
Nachfolgend sind die wichtigsten Punkte des Erdfalls in der Ihmlingstraße tabellarisch aufgelistet:
Stammdaten:
Objekt-ID |
7121Ka00001 |
Objektname |
Erdfall Ihmlingstraße 2000 |
Lokalität |
Stuttgart-Bad Cannstatt, Ihmlingstraße |
Gemeinde |
Bad Cannstatt |
Stadt-/Landkreis |
Stuttgart |
TK25-Nr. |
7227 |
TK25-Name |
Waiblingen |
Datengrundlage |
Dokumentenrecherche, Geländebegehung, Fachgutachten, Geophysik, Bohrungen |
Lage-Bezugspunkt |
Zentrum des Subrosionsobjektes |
Ostwert |
517390 |
Nordwert |
5405444 |
Koordinatenreferenzsystem |
ETRS89/UTM32 |
Koordinatenfindung |
Karte |
Höhe [m ü. NHN] |
237 |
Höhenermittlung |
Karte |
Allgemeine Fachdaten:
Entstehungszeitraum |
2000– (12.–13.05.2000) |
Aktivität |
andauernder Prozess |
Geländenutzung während der Entstehung |
Wohngebiet |
Schäden |
Schäden an beweglichen Gütern |
Spezielle Fachdaten Verkarstung/Subrosion:
Primär-/Folgeereignis |
Primärereignis |
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Subrosion-/Suffosionsobjekt |
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Ursache |
Sulfatkarst |
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Entstehungshorizont |
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Grundgipsschichten (kmGI) der Grabfeld-Formation (kmGr) |
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Geländeoberfläche |
Stratigraphie |
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Lösslehm (Lol) |
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Lössführende Fließerde (qflL) |
Schluff, tonig, feinsandig |
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Hochterrassenschotter (THg) |
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Entstehungstiefe [m. u. GOK] |
Obere Grenze |
29 |
|
Untere Grenze |
51 |
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Max. oberer Durchmesser [m] |
5–10 |
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Max. unterer Durchmesser [m] |
unbekannt |
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Max. Tiefe [m] |
> 10 |
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Kubatur [m3] |
ca. 400 |
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Aufsichtsform |
rundlich |
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Profilform |
Schlot- bis trichterförmig |
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Zustand zum Zeitpunkt der Aufnahme |
unbeeinflusst/natürlich |
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letzter bekannter Zustand |
verfüllt |
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Hydrografischer Zustand zum Zeitpunkt der Aufnahme |
trocken |
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letzter bekannter hydrografischer Zustand |
trocken |
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Sicherungsmaßnahmen |
mit Erd- bzw. Recyclingmaterial verfüllt, mit Geogitter überspannt |
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Sonstige Anmerkungen |
Nachbrüche |
Literatur
- (2002). Zur Problematik des Gipskarstes in einem Wohngebiet in Stuttgart. – Schad, H. (Hrsg.). Tagungsband 3. Kolloquium Bauen in Boden und Fels, Esslingen vom 22. – 23. Januar 2002, S. 213–219, Ostfildern (Technische Akademie Esslingen).
- (2006). Zur Entwicklung des Sulfatkarstes und zur Abschätzung des subrosionsbedingten Gefährdungspotentials in einem Wohngebiet in Stuttgart. – Laichinger Höhlenfreund, 41. Jahrgang, S. 19–26.
- (2006). Zur Standsicherheit von Gipsauslaugungshohlräumen unter Berücksichtigung geologisch-geotechnischer Einflussgrößen. – Schad, H. (Hrsg.). Tagungsband 5. Kolloquium Bauen in Boden und Fels, Esslingen vom 24. – 25. Januar 2006, S. 475–482, Ostfildern (Technische Akademie Esslingen).
- (2017). Der Baugrund von Stuttgart – Erläuterungstext und digitale Baugrundgeologische Karten. 157 S., Freiburg i. Br. (Landesamt für Geologie, Rohstoffe und Bergbau; Landeshauptstadt Stuttgart).
- (2008). Dreidimensionale Finite-Elemente-Simulation der Standsicherheit von Auslaugungshohlräumen und deren geologische Bewertung (Gipskeuper-Formation, Stuttgart-Bad Cannstatt). – Dissertation Universität Stuttgart, 192 S., Stuttgart (Institut für Planetologie der Universität Stuttgart).